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Also suchte ich bei meinem letzten Berlinaufenthalt bewusst nach einem entsprechenden Angebot, gern auch gehoben, weil dort sehr oft kreativ ohne tierische Produkte gekocht wird.
Der Guide Michelin ist bislang immer ein guter Ratgeber gewesen und auch ohne einen Stern klang die Empfehlung des Bonvivants als unkompliziert, relaxed und originell ebenso einladend wie die Selbstbeschreibung als „Cocktail Bistro“ interessant. Eine Reservierung schien mir an einem Dienstagabend nicht zwingend.
Die Entfernung von meinem Hotel in der Nähe des Jüdischen Museums hatte ich etwas unterschätzt und war daher nach dem 50-minütigen Fußmarsch recht froh, endlich die großzügigen Altbau-Räume in Schöneberg erreicht zu haben. Der Empfang war nicht unfreundlich, aber ein wenig reserviert, später entpuppte sich der durchweg junge Service als engagiert, fachlich professionell und freundlich, meine kleinen Extrawünsche wurden gern erfüllt. An einer Rückmeldung war man ehrlich interessiert und die Gerichte und Getränke wurden sowieso gern erklärt. Gern hockend vor der Tischplatte, um Augenhöhe zum Gast herzustellen - ich hatte gehofft, diese Attitüde wäre endgültig vorbei. Abgesehen davon agierte der Service unprätentiös, sieht man von den zwar individuellen, aber uniform klein-geblümten Hemden bzw. Blusen ab, die hier als „Arbeitskleidung“ über der Hose getragen werden. (Berlin, da machste nix…)
Der ebenerdige, überraschend große Gastraum mit gewöhnungsbedürftigem, grau gestrichenem Estrichboden wird durch die Bar geteilt: Vorne tatsächlich eine Lounge mit Polstermöbeln, dann schließen sich einige Hochtische und -Stühle für kleinere Gruppen an. Im hinteren Bereich befindet sich der eigentliche Restaurantbereich. Tatsächlich war weder an den großen Fenstern mit ihren samtenen Stores noch an den moosgrün gestrichenen Wänden mit stilsicheren Deko-Elementen etwas für mich frei.
Die Holz-Metallrohr-Stühle sind auf Dauer etwas hart. Mit dem Zweiertisch in der Mitte war ich trotzdem zufrieden, denn genau über mir war ein Lichtauslass in der abgehängten Decke, die erfreulicherweise noch einen Blick auf die umlaufende Stuckleiste frei ließ. Dass allerdings ab 20.00 Uhr das Licht foto-unfreundlich gedimmt wurde, läuft für mich unter „Konzept vor Kunde“.
Aber bitte, vielleicht ist manchen Gästen die Bar-Atmosphäre wichtiger als ein erhellender Blick auf das Menü (4 bis 6 Gänge von 69 bis 81€), welches zweisprachig schon am Platz auslag, sehr schön. Und auch die Getränkebegleitung war schon angedruckt, die hier eine echte Besonderheit darstellt: Statt einer Begleitung aus der übersichtlichen Weinkarte werden passende Cocktails (44 bis 53€) serviert! Der vor meinem Tisch hockende Bar-Keeper (Inhaber?) erklärte mir, dass man einfach mehr Aromenvielfalt als bei Wein sehe, gegen den aber „nichts zu sagen sei“. Ganz schön schnöselig, dachte ich zuerst bei mir. Aber es ist schon was dran: Kräftig zitrische Säure ist bei Wein eher schwierig, Würzigkeit wird man selten finden, bittere Noten erst recht. Und Schärfe schon mal gar nicht. All diese Aromen konnte ich an diesem Abend beim - selbstverständlich auch alkoholfrei angebotenen - Pairing erleben, mal verblüffend gut, mal weniger passend. Aber das geht mir mit den meisten Weinbegleitungen auch so. Eine sehr gute neue Erfahrung, danke an das Bonvivant!
Bei angenehmer, mal chilliger, mal funky Hintergrundmusik ließ ich mir den Aperitif schmecken, der dem eher sauren als kräuterigen Wacholder-Verbene-Mix gleich mal mit Weizengraspuder am Glasrand ungewöhnlich „getreidige“ Nuancen spendierte!
Der vegetarische Abend begann mit drei Aperos, die wunderbar in die Küche einführten:
Eine Steinpilzpraline, die geschmacklich keinen Zweifel an ihrer Herkunft aus dem Wald aufkommen ließ, wurde von säuerlich eingelegten Buchenpilzen und kräftigem, fast schon scharfen Bärlauch begleitet. Süffiger Gegenpart ein kleiner, nicht zu matschiger Kartoffelsalat auf einem Chip, gekrönt von einer „Blüte“ der Belper Knolle (nach der Art des Tête de Moine) mit Gemüseasche. Schließlich eine Tartelette mit einer feinen Crême von Karotte und Petersilie, die durch eine Blütenessenz gut eingefasste bittere Noten erhielt. Süß, bitter, „blütig“. Stark. Spätestens jetzt war klar, dass hier keine grobe Gemüseküche zu erwarten war, sondern künstlerische Verfeinerung.
Dementsprechend startete das eigentliche Menü mit Kohlrabi, der mit Holunderblüten, Tannennadeln und schwarzem (nämlich gegrilltem) Apfel kombiniert war. Von roh über gepickelt und cremig bis hin zu Öl, wurden hier zunächst klare Aromen sich gut ergänzend nebeneinander gestellt. Während das „versteckte“ Tatar auf den Punkt gegart kam, war mir die rohe Scheibe zu dick. Da musste man sich beim Schneiden schon bemühen, was dazu führte, dass schnell ein unansehnlicher „Einheitsbrei“ entstand. Heimlicher Star war die gesondert gereichte, aufgeschäumte Suppe aus den Blättern, aus der deutlich saure Apfelzesten aromatisch hervorstachen.
Als Begleitung Wacholdergrün-Essenz von LaOri mit Apfel-Verjus, Oolong und Ingwer.
Der nächste Teller war ein Hingucker und präsentierte Texturen des vegetarischen Alleskönners Sellerie in einer Beurre blanc von über Holzkohle geräucherter Butter. Weizengras und Wildkräuter sorgten dafür, dass es nicht zu sehr ins Süßliche abdriftete. Die optisch an Trüffel erinnernde gehobelte Belper Knolle blieb überraschend blass. Schon gefällig, war aber von Anfang an überraschend breiig und damit auch schnell in einen indifferenten Einheitsgeschmack einmündend, der wenig Nuancen bereit hielt. Der Lieblingsgang der sehr netten Frau im Service, für mich der „schwächste“ auf diesem hohen Niveau.
Herausfordernd ein Zero-Cider von Jörg Geiger der mit einer Mezcal-ähnlichen Räucheressenz das Thema der Beurre blanc sehr herausfordernd aufnahm.
Sehr gut die folgende Brotauswahl mit kreativen Begleitern: Das Sauerteigbrot, litt noch an seiner etwas zu harten Kruste, dafür war der Langos ebenso spitzenmäßig wie der hauchdünne Leinsamen-Cracker. Dazu machte die Cashew-Crème mit Ziegenkäse-Kulturen viel mehr Spaß, als es die Beschreibung vermuten ließ, und die fermentierte Miso-Butter war pures umami-Fett.
Als passenden Drink hätte man für zusätzliche 7,5€ ein alkoholfreies Knärzje-Bier aus Brotabschnitten erwerben können. Ich versuchte stattdessen den Laori Juniper No. 1, dessen kräftiger Wacholdergeschmack zunächst nicht von einem Dry Gin zu unterscheiden war. Nur im Abgang fehlte mir dann doch die Schärfe.
Beim nächsten Gang drehte es sich um Topinambur, dem kleinen Bruder der Sonnenblume. Confiert, fast roh und glasiert, als Püree und Chip, gerieten die Kombinationen mit Zwiebeln, Majoran und diesmal wirklich Trüffel zwar kräftig, aber nie unpassend. Kein Teller für Beckenrandschwimmer.
Dementsprechend war die flüssige Kombination von Gerstenmalzbier und schwarzem Trüffel einerseits rau, aber auch schon fast wieder traubig. Hat gut gepasst.
Erneut wählte die Küche eine kreisförmige Anrichte: Unterschiedlich gegarte Flowersprouts und Kräuter umrahmten geräucherte Belugalinsen in einer Beurre blanc, die ihre Säure aus einem koreanischen Sauerkrautansatz bezog. Das Eigelb hatte einen perfekten Schmelz und leuchtete verlockend aus dem geheimnisvollen Dunkel. Das sah nicht nur gut aus, das konnte in seiner Aromatik und Konsistenz mit jedem Fleischgang mithalten. Crunch brachten frittierte Zwiebelringe, die etwas Süße beisteuerten, was wohltuend die Schärfe des Kimchi dämpfte. Mein Favorit.
Die Schärfe griff ein Muskatauszug auf, der mit Hibiskus und Wildkirsche gezähmt wurde. Am Tisch gab es noch eine Haube aus Bierschaum aus dem Syphon. Sehr gut.
Die Rolle eines Pre-Dessert erfüllte ganz frühlingshaft Kirschblatt-Granité und eingelegte Blüte einerseits und Rhabarber andererseits. Ganz ausdrucksstark dazu eine Mousse von Johannisbeerholz. Schließlich Sauerampfer und nix mehr mit Blütenträumen - da wurde der Gaumen ordentlich erfrischt. Super knusprig und eindeutig der Mohn-Chip.
Im Glas eine harmonische Komposition von Rooibos und geklärtem Erdbeersaft mit Zimt und Ingwer gegen zu plakative Fruchtigkeit.
Das eigentliche Dessert überzeugte mich wie oft (etwas) weniger. Die gedünstete Pastinake mit ihrer Glasur von weißer Schokoladen-Ganache geriet doch recht pappig-süß. Eingelegte Kiefernzapfensamen und Fichtennadel-Eis hielten schön würzig dagegen, die Mousse aus Robinienblüten blieb etwas blass. Natürlich war alles selbst gesammelt, wie mir auch ungefragt versichert wurde. Ach, Berlin…
Trotzdem hätte auch dieser Gang ein Foto verdient gehabt.
Die Orangenessenz mit Kardamom und Fenchelsamen konnte mit ihrer ätherischen Aromenwelt gut an die Nadelbaumsamen anschließen.
Das sehr lecker ausschauende Praliné musste ich fastenbedingt ablehnen. Die zuvorkommende Crew spendierte mir daraufhin einen entkoffeinierten Espresso (eigentlich schmale 2,5€), den ich mir zum Abschluss eines überaus ansprechenden fleischfreien Abends bestellt hatte.
Ich war insgesamt sehr zufrieden mit meinem Besuch in diesem kulinarisch gleich in mehrfacher Hinsicht interessanten und überraschenden vegetarischen Restaurant. Und die Tester des Guide Michelin offenbar auch. Eine Woche nach meinem Besuch gehörte das Bonvivant zu den neu besternten Restaurants. Verdient.